Eigentlich sollte ich heute meinen ersten 3.000er Gipfel erklimmen. Die Überschrift verrät es ja schon: Aus diesem Plan wurde nichts. Dennoch möchte ich euch diese schöne Tour von Latsch bis zum Niederjöchl mit vielen tollen Aussichtspunkten nicht vorenthalten.
Im Frühtau zu Berge wir zieh’n, fallera!
Der Tag beginnt früh und bereits um kurz nach halb 8 sitze ich am Bahnhof in Schlanders. Dank der Vinschgau Gästecard kann ich die Öffentlichen Verkehrsmittel kostenlos nutzen. Bis zum Zielbahnhof Latsch sind es gerade einmal zwölf Minuten Zugfahrt. Die Seilbahn St. Martin am Kofel bringt mich innerhalb von nicht einmal zehn Minuten auf 1.740 m über den Meeresspiegel und die Tour kann beginnen. Von hier habe ich wieder einen tollen Blick auf die unzähligen Apfelbäume, die so berühmt für diese Region sind. Allzu viel Zeit gönne ich mir aber nicht, denn ich habe ja schließlich noch ein großes Ziel heute.
Im Wechselspiel aus Licht und Schatten durch den steilen Wald
Los geht es also gleich rechts der Seilbahn. Ein paar Schritte entfernt von der Bergstation liegt linkerhand ein Gehöft. Ich gehe über das Grundstück und bin schon auf dem Weg Richtung Zerminiger bzw. zum Niederjöchl. Nach dem Bauernhof geht es einen recht breiten Wirtschaftsweg bergan, viel Zeit zum Eingehen bleibt nicht. Bald biegt der Weg rechts ab und der Wirtschaftsweg geht durch den Wald. Ich erreiche die St. Martin Alpl und halte mich links.
Jetzt geht der Weg weiter in den Wald, über Wurzeln deutlich steiler als der Forstweg.
Wie kommt ein Moped zum Niederjöchl?
Mir kommt tatsächlich ein Mann auf einem Moped entgegen. Ich frage mich ernsthaft wie er um Himmels Willen da HOCH gekommen ist? Über den gleichen Weg wie ich? Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Vielleicht gibt es ja doch noch einen anderen Weg. Es wird sein Geheimnis bleiben. Irgendwann komme ich an eine Lichtung, an der sich dieser schöne Ausblick bot:
Noch ein letztes kurzes Stück im Wald und dann verlasse ich die Baumgrenze endgültig und komme auf eine schöne Alm.
Die Grillen zirpen um die Wette und weit oben kann ich schon ein Gipfelkreuz ausmachen. Ist es das? Wo geht denn der Weg lang? Allein mit meinen Gedanken wandere ich bergan. Ein tolles Holzhaus steht auf der Alm, inklusive Satellitenschüssel und Solarzellen auf dem Dach. „Wahnsinn! Sogar vor Berghütten macht die Moderne nicht Halt“ denke ich mir im Vorbeigehen.
Dieser Weg ist steinig und schwer – und voller Schafe
Der Weg geht nun immer in großen Schlaufen und kurz oberhalb der Almwiese läuft der Weg am Berg entlang. Und ich meine wirklich am Berg entlang.
Kaum breiter als ich selbst es bin, schlängelt er sich den Berg hinauf. Ein Schritt zu weit links und ich segle unsanft eine Geröllwand hinab. Die einzigen Lebewesen, die ich hier oben treffe, sind eine Herde voll flauschiger Schafe. Die haben Angst vor mir und flüchten. Immer mal wieder pfeift das Murmeltier, das gerade mit Wache an der Reihe ist. Nach ungefähr einer Stunde Gehzeit habe ich es geschafft. Eine Hirtenhütte aus Stein taucht vor mir auf – unbewohnt, aber als Notunterstand natürlich brauchbar. Ich bin jetzt auf 2.710 m Höhe und damit schon einmal höher als damals auf dem Hocheck. Jetzt noch ein, zwei Kehren und da ist das Gipfelkreuz des Niederjöchl. Wobei sich ebendieses 10 Minuten weiter nördlich befindet, in einer Senke.
Meine eigene Grenzerfahrung auf über 2.700 Metern Höhe
Jetzt ist es 11.30 Uhr und an der Wegmarkierung steht noch 2 Stunden bis zum Zerminiger.
Meine Füße spüre ich heute schon ein wenig, gestern war ja kein Pappenstiel. Und der Weg zum Zerminiger erscheint mir ähnlich gefährlich wie eben der Steig, zumal sich dunkle Wolken über meinen Kopf ziehen. Ich hadere mit mir. Der Ehrgeiz sitzt tief, andererseits sind schon viele aufgrund von Selbstüberschätzung verunglückt. Ich bin hin- und hergerissen, die Tour gestern hat meinem Körper mehr zugesetzt als ich dachte und als ich mir selbst eingestehen will. In meiner Unentschlossenheit gehe ich zunächst weiter Richtung Zerminiger, zumal ich in der Ferne ein Pärchen sehe, das anscheinend das gleiche Ziel hat. Vielleicht kann ich mich ein wenig anschließen. Zunächst geht es für mich auf dieser wundervollen, einsamen Hochebene weiter und nur die scheuen Schafe, sowie zwei junge Wanderer sind mit mir hier. Dann wird der Weg wieder schmaler und felsiger. Das Pärchen vor mir kommt schneller voran als ich und ich schaffe es nicht, aufzuschließen. Hinter einer weiteren Bergkuppe erkenne ich, dass es selbst bis zum Rosskopf noch ein gutes Stück des Weges ist.
Neues Ziel für heute: das Niederjöchl!
Ich atme noch einmal durch, gehe in mich, wäge ab. Das ist echt nicht einfach für mich. Der 3.000er sollte doch meine Reise aus dem letzten Jahr toppen! Aber ist es wirklich entscheidend wie hoch oder wie weit ich gekommen bin? Ist es nicht viel wichtiger, dass ich überhaupt hier sein kann, die Berge genießen, den Alltag ausblenden und unabhängig von Allem und Jedem entscheiden kann? Als ich endlich zu der Erkenntnis gelange, dass nichts anderes als ein „Ja“ die Antwort auf diese Fragen sein muss, beschließe ich, dass hier an diesem See mein persönlicher Wendepunkt der Tour sein wird. Es macht einfach keinen Sinn, ständig mit sich selbst im Wettstreit zu sein: höher, weiter, schneller. Das ist nicht der Zweck meiner Reise und das habe ich im alltäglichen Leben ohnehin genug. Ich werde noch einige Tage unterwegs sein, um mir tolle Weitblicke auf eine einzigartige Natur zu gönnen und will nicht alle Kräfte bereits verbrauchen. Außerdem muss auch der Rückweg sicher bestritten werden und meine photografischen Skills sollte ich in Ruhe etwas trainieren.
Ich lege also einige ausgiebige Fotopausen ein, unterhalte mich kurz mit einem Biker, der allen ernstes den Weg nach St. Martin mit dem Bike fahren will, den ich schon haarig zu Fuß fand. Hut ab! Gegen 13.30 Uhr und mit einem Apfel und 2 Knäckebrot im Magen geht es dann wieder zurück für mich. Ach ja, ich erwähnte es noch nicht. Es gibt keine Einkehrmöglichkeit und auch keine wirklich geeignete Stelle, um die Getränkevorräte zu füllen. Also genügend Proviant einpacken!
Der Rückweg ist analog dem Aufstieg und ich kann endlich meine Trekkingstöcke von Steinwood ausprobieren, die ich letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt bekam.
Auf den letzten Metern muss ich glatt noch mal sprinten, um die Bahn zu erreichen. Als kleinen Trost und zugleich als Belohnung gibt es abends noch einen tollen Kaiserschmarrn im Restaurant Schwarzer Adler in Schlanders. Leecker!!!
Bevor ich müde ins Bett falle, beschließe ich noch: „Morgen muss mal eine leichtere Tour her“. Den Gedanken kaum zu Ende gedacht, schlafe ich auch schon.